Einblicke in die Funktionsweise digitaler Schulen. Was sind die Besonderheiten?

Lernen 4.0 in den USA und in den Niederlanden. Wie funktioniert das?

Schüler und ihre Smartphones – in den meisten Schulen noch immer eine Verbindung, die für ständige Konflikte sorgt. Häufig versuchen Lehrer die digitalen Alleskönner aus dem Unterricht zu verbannen, was zu nervenaufreibenden Dauerkämpfen führt. Aufgeschlossenere Pädagogen beziehen das Smartphone in den Unterricht ein, vermitteln deren Nutzen ebenso wie die Gefahren und lassen die Schüler die vielfältigen Funktionen von Recherche und Übersetzung bis hin zu Foto-, Film- und Audioproduktionen im Unterricht nutzen. Als problematisch erweisen sich allerdings die Gefahren der Ablenkung durch Computerspiele und soziale Netzwerke, die unterschiedliche Ausstattung der Schüler mit Smartphones und deren Spezifikation, sowie die immer noch mangelnde Versorgung der Schulen mit einer flächendeckenden schnellen Internetverbindung.

Was aber wäre, wenn digitale Hilfsmittel nicht als Quelle von Störungen, sondern als zentrales, flächendeckendes Medium für den Unterricht genutzt würden? Wenn Smartphones und Tablets im Unterricht nicht verboten, sondern wesentlich zur Vermittlung des Unterrichtsstoffs eingesetzt würden? In der Bildungswissenschaft gibt es dazu ganz unterschiedliche Ansichten. Während manche Vertreter digitale Medien im Unterricht für das Schwinden sozialer Kompetenzen und intellektueller sowie emotionaler Verarmung verantwortlich machen, sind andere der Ansicht, Lernen mit dem Tablet oder dem Smartphone stärke die Eigenständigkeit, Kreativität und Motivation der Lernenden und fördere das Denken auf vielfältige Weise.

Die Vision einer digitalen Schule, in der die Schülerinnen und Schüler den PC als Wissensspeicher und Lernlotsen nutzen, ist jedoch nicht mehr nur Theorie. In vielen Ländern ist sie bereits Wirklichkeit geworden.

 

Digitales Lernen in den USA

In den USA ist digitales Lernen nicht nur an Universitäten und Colleges eine mehr und mehr genutzte Form der Wissensvermittlung. Auch im Kindergarten und in der Grundschule lernen Kinder schon mit dem Tablet. Seit 2010 verwenden in Auburn bei Boston bereits fünf Primary Schools Tablets. Jedes Kind bekommt dort ein eigenes iPad, auf dem ihm Informationen zur Verfügung gestellt werden, die es selbstständig abrufen kann, und an dem es spielerisch Aufgaben löst und dazu Rückmeldungen bekommt.

Sowohl dort als auch an anderen Schulen, wie der Florida Virtual School, einer reinen Online-Highschool, die nur im Netz besteht, und der White Plains School im Staat New York wurden Studien durchgeführt, welche die Lernerfolge von digital unterrichteten Schülern mit denen von Schülern verglichen, die nach herkömmlichen Methoden lernten. Jedes Mal zeigte sich, dass die digital unterrichteten Schüler mehr Fortschritte machten und mit viel Spaß bei der Sache waren.

Der „invertierte Unterricht“

Typisch für den digitalen Unterricht in den USA ist der „invertierte Unterricht“ bzw. das Lernen in „flipped lessons“. Zuerst lernen die Schüler selbstständig in einer Art Lernwerkstatt, in der sie sich in der Schule oder zuhause, allein oder in der Gruppe, mit ihrem persönlichen Lerntempo einen bestimmten Lernstoff aneignen, der später in der Schule gemeinsam mit den Lehrern vertieft und ausgebaut wird. Hier können auch Fragen gestellt werden und es werden Aufgaben verteilt. Das Gelernte wird kritisch hinterfragt und in Beziehung zu anderen Inhalten gesetzt. Hauptakteure im Lernprozess sind also die Schüler. Sie bestimmen selbst, was sie wann, auf welche Weise und in welchem Tempo lernen. Lehrer stehen nicht mehr im Vordergrund des Lernprozesses, sondern begleiten ihn als Moderatoren, Ansprechpartner und Berater. Sie verfügen über Software, welche mit ihrer Cockpitfunktion über auszugleichende Schwächen und zu optimierende Stärken der Schüler informieren.

Das klingt nach Horror eines jeden Datenschutzbeauftragten? Womöglich. Es ermöglicht bei seriösem Umgang mit den Daten aber auch differenziertes, transparentes Lehren und Lernen.

So lernen die Schüler nicht nur, sich selbstständig Wissen anzueignen, sondern auch kritisch und kreativ damit umzugehen. Unterschiede im Lerntempo, die in einer nach dem Alter zusammengestellten Klasse schnell zu Frustration und Abhängen der Langsamen oder Langeweile der schneller Lernenden führen, werden durch das eigenständige Lernen ausgeglichen, sodass im sich anschließenden vertiefenden Unterricht in dem diskutierten Thema alle über den gleichen Wissensstand verfügen können.

 

Die Steve Jobs-Schulen in den Niederlanden

Ein ähnliches Konzept mit dem Namen „Unterricht für ein neues Zeitalter“ setzt der Niederländer Maurice de Hond in Grundschulen um. Damit möchte er Kinder auf die Anforderungen des digitalen Zeitalters vorbereiten, was seiner Meinung nach eine neue Art der Schule erfordert. Inzwischen werden an den „Steve-Jobs-Schulen“ unter anderem in Amsterdam, Almere, Sneek und Emmen Kinder zwischen vier und 12 Jahren unterrichtet.

Das Tablet als Wissensspeicher und persönlicher Lernassistent

Der Unterricht findet im Wesentlichen über das iPad statt. Jedes Kind hat einen eigenen Tablet-Computer, verpackt in einen bunten, stabilen Gummi-Schutzrahmen mit praktischem Tragegriff. Zur Finanzierung des Lerngeräts können Eltern einen Zuschuss aus einem gemeinnützigen Fonds bekommen.

Das Lernen am Tablet eröffnet den Kindern ganz neue Möglichkeiten, sich den Schulstoff anzueignen. Individuelles Lernen heißt hier die Devise. Jedes Kind hat einen eigenen Stundenplan, der täglich neu vereinbart wird, und einen Lernplan. Beide werden ebenfalls auf dem Computer abgespeichert. Über spezielle Apps und über Lernprogramme, die von den Lehrern erstellt wurden, kann jedes Kind gemäß seiner Stärken und Schwächen und seines Lerntempos selbstständig Themen und Inhalte erarbeiten. Die Aufgaben sind auf den Wissenstand und die Fortschritte des jeweiligen Kindes abgestimmt.

Verschiedene Formen des Unterrichts

Das heißt aber nicht, dass die Kinder in den digitalen Schulen die gesamte Zeit nur vor dem Bildschirm verbringen. Auch wenn das Tablet der zentrale Wissensspeicher ist, sodass keine schweren Bücher mehr in den Unterricht geschleppt werden müssen und man vergeblich nach Tafeln und Kreide sucht, so gehören zum Unterricht auch der Austausch in der Gruppe, das gemeinsame Lernen in Partnerarbeit und die Anleitung und Rückmeldung durch Lehrer.

Im Unterschied zu den meisten herkömmlichen Schulen, wird in der digitalen Schule nur in kleinen Gruppen unterrichtet, so dass die Lehrer individuell auf jedes einzelne Kind eingehen können. Ihre Aufgabe ist es auch hier, den Schülerinnen und Schülern beratend und als Lernbegleiter zur Seite zu stehen. Die einzelnen Lerngruppen sind altersgemischt. Man lernt nicht gemeinsam, weil man in einer bestimmten Klassenstufe ist, sondern weil Interessen und Lerntempo gleich sind. Die Gruppen können also von Unterrichtseinheit zu Unterrichtseinheit immer wieder anders zusammengesetzt sein.

Obendrein gehört zum Schultag viel Abwechslung. Haben sich die Kinder eine Zeit lang auf ein bestimmtes Thema konzentriert, schließt sich eine Zeit zum Spielen oder zum Herumtoben im Freien an. Regelmäßig wird auch gemalt und gebastelt. Im Stuhlkreis, ebenfalls ein fester Bestandteil des Schultags, geht es darum, die Zusammengehörigkeit der Kinder zu stärken. Hier werden z.B. Geburtstage gefeiert.

Hausaufgaben gibt es hingegen nicht. Wer nach Schulschluss (um 15 Uhr) aber noch weiterlernen möchte, kann das auch zuhause tun.

Offene Räume und viel Bewegungsfreiheit

Klassenzimmer im herkömmlichen Sinn gibt es in den Steve-Jobs-Schulen nicht. Die Räume sind durch Glas- und Stellwände abgeteilt. Hier kann man sich zum gemeinsamen Lernen zusammenfinden oder in den Selbstlernraum zurückziehen. Anstelle der typischen Klassenraummöblierung mit Tischen und Holzstühlen gibt es Sitzsäcke und Sessel mit großen Kissen. Die Kinder tragen keine Schuhe. Sie laufen in Socken über die mit Teppichen ausgelegten Böden.

Auch die Ferienzeiten weichen von denen der herkömmlichen Schule ab. Die Urlaubszeiten sind für Kinder und Lehrer flexibel. Jedes Kind muss aber eine bestimmte Lernzeit pro Jahr erfüllen. Das garantiert einen gleichmäßigen Lernfortschritt.

Verbindlicher Lernplan

Alle sechs Wochen sprechen Lehrer, Schüler und Eltern den Lernplan für weitere sechs Wochen ab. So können die Lernziele für das Schuljahr immer mit dem aktuellen Stand des Kindes abgeglichen und der Stoff angepasst werden.

Mit dem Tablet können die Kinder individuell, nach Interesse und Lerntempo neue Wissensgebiete erkunden. Genauso selbstverständlich wie sie es zum Spielen oder zum Austausch von Nachrichten verwenden, nutzen sie es, um den Stoff in Mathematik, Fremdsprachen oder Biologie zu lernen. Dabei sind sie durchaus konzentriert, über einen längeren Zeitraum bei der Sache. In Lernspielen bekommen sie bspw. immer wieder Rückmeldungen zu ihrem Wissenstand und neue, angepasste Aufgaben. Diese am Tablet zu lösen motiviert viel stärker, als Lösungen ins Rechenheft oder Arbeitsbuch einzutragen.

Lernspiele am Tablet bieten die Chance, über virtuelle Welten mehrere Sinne gleichzeitig anzusprechen und den Lernstoff anschaulich zu machen. Dabei bewältigen die Schülerinnen und Schüler hohe Anforderungen, denn häufig arbeiten die Lernspiele mit komplexen, vernetzten und interaktiven Erzählungen. Nicht nur der Umgang mit digitalen Medien wird so eingeübt, auch Neugier, Kreativität und Selbstständigkeit werden gestärkt. Der Stoff des Unterrichts wird zu einem Projekt, dass es erfolgreich abzuschließen gilt, und das den persönlichen Einsatz jedes einzelnen fordert. Er wird nicht mehr durch einen Vortrag des Lehrers oder eine Abfolge von Aufgaben vermittelt. Zu diesem Lernen gehört aber auch, dass die digital erworbenen Informationen kritisch beurteilt und in einem Zusammenhang eingeordnet werden können.

Vielseitiger Unterricht durch „blended learning“

Das selbstständige Lernen am Computer fördert Neugierde und Experimentierfreude. Spaß am Spielen und Entdecken werden in den Unterricht integriert. Dennoch ist nachhaltiges, erfolgreiches Lernen am ehesten durch das sogenannte „blended learning“ eine Verbindung herkömmlicher und innovativer Methoden möglich, wie es an den digitalen Schulen auch praktiziert wird. Die Wissensvermittlung am Computer wird ergänzt durch den Austausch in der Gruppe und auch den Klassenunterricht, der von einem Lehrer geleitet wird. Der persönliche Kontakt kann durch das digitale Lernen nicht ersetzt werden und ist auch an den digitalen Schulen ein wichtiger Bestandteil des Schulalltags. Hier kommt es auf einen guten Ausgleich an. Digitale Hilfsmittel können Schüler selbstständiger und unabhängiger machen und Lehrer entlasten. Umso wichtiger wird dabei die Aufgabe des Lehrers, für jedes einzelne Kind Bezugsperson und Mentor zu sein. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Kindern. So kann die Schule ein Ort sein, an dem auch Gemeinschaft und Teamarbeit erfahren werden können.